Verena Weyl
Morgendämmerung • Radfahren • Gute Laune
Als die Touristikerin Verena Weyl eines Morgens aus unsanften Träumen erwachte, fand sie sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Nein, ganz so schlimm war es nicht. Aber sie musste sehr früh aufstehen, um die lange Fahrt zum Jakobsmarkt im weit entfernten Remagen mit dem Fahrrad anzutreten, denn so früh fahren noch keine Bahnen.
Schlecht gelaunt steigt sie in der morgendlichen Dunkelheit aufs Fahrrad. Sie hält einen Moment lang inne, atmet tief durch, bringt ihren ganzen Willen auf, und fährt los. Sie fährt und fährt. Sie fährt, bis ihre Arterien Batteriesäure pumpen. Dann fährt sie noch ein wenig weiter. Doch dann präsentiert sich ihren Augen ein Bild, das sie schlagartig zum Halt bringt. Sie ist regungslos. Sie ist sprachlos. Sie ist atemlos.
Auf der gegenüberliegenden Rheinseite brechen die ersten Sonnenstrahlen des Tages von hinter den Bergen hervor und gleiten grazil an den steilen Weinhängen entlang hinunter zum Rhein, dessen schimmernder Abglanz das Tal in ein romantisches Märchen verwandelt.
In dem Moment ist Verena eins mit Heinrich Heine, mit Joseph von Eichendorff, mit William Turner und jedem, der sich je durch einen solchen Anblick berührt fühlte. Nun ist auch sie eine von ihnen. Und die schlechte Laune ist plötzlich weg.
Es geht unweigerlich nach vorn, ob mit der Bahn oder mit dem Fahrrad, aber manchmal muss man anhalten und auf die gegenüberliegende Rheinseite schauen, um zu verstehen.
Verena schaffte es übrigens noch rechtzeitig zum Jakobsmarkt.